Robert Scheer: „Pici“

Erinnerungen an die Ghettos Carei und Satu Mare und die Konzentrationslager Auschwitz, Walldorf und Ravensbrück

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Es gibt viel Literatur, die sich mit dem Holocaust beschäftigt und mein Prüfungsthema zur Buchhändlerprüfung lautete „die Verarbeitung des Holocaust in der Literatur“. Daher habe ich bereits einige Romane und Erfahrungsberichte von Imre Kertész, Roman Frister, Inge Deutschkron u.v.m. gelesen. Es hat seine Zeit benötigt, damit die Betroffenen, die den Horror überlebt haben, über diesen Schrecken sprechen und schreiben konnten. So auch Pici, die sich erst ihrem Enkel, Robert Scheer, gänzlich öffnet und sich überwindet, alles erneut durch ihren Bericht zu durchleben.

Während der Ausbildung zum Buchhändler war wohl der Anstoß zu meinem Prüfungsthema unsere Reise mit der Berufsschule nach Krakau. Wir besichtigten das Konzentrationslager Auschwitz und das Vernichtungslager Birkenau. Diese Gedenkstätte hat mich durch ihren Umfang und die unfassbare Größe erschüttert. Gepaart mit den Bildern aus den Filmen, Tagebüchern, Erfahrungsberichten und Romanen wird dies für mich stets eine Erinnerung bleiben. Ich hoffe, dass alle Menschen aus dieser Geschichte lernen. Picis Erzählung dokumentiert ihren persönlichen Schrecken und ihren Verlust. Denn ihre ganze Familie wurde ermordet und sie hat lebenslang diesen Schmerz, der sich körperlich und seelisch zeigt, mit herumgetragen. Sie als Holocaust-Überlebende, die während des Nationalsozialismus ihrer Würde und Menschlichkeit beraubt wurde, macht nun durch ihr Gespräch mit ihrem Enkel, Robert, ihre Geschichte und mit ihr einige Menschen wieder sichtbar, die bisher nur Namen auf den Deportationslisten waren.

Ich habe Robert Scheer durch seinen Roman „Der Duft des Sussita“ kennengelernt. Dadurch dass wir beide Literatur und Hardrock lieben, gingen viele Mails zwischen uns bereits hin und her und es entstand eine Freundschaft. Daher war es mir unmöglich, sein neues Buch distanziert zu lesen.

PICI & Robert

Robert Scheer und Pici

2014 reiste Robert nach Israel, um dort seine Großmutter Elisabeth Scheer, genannt Pici, über ihre Kindheit und Jugend zu befragen. Diese Gespräche sind die Grundlage des Buches. Robert als Autor und Gesprächspartner nimmt sich sehr zurück und lässt Pici erzählen. In Picis Leben gab es reichlich erschütternde Momente. Sie griff aber immer nach kleinen Strohhalmen der Hoffnung und bewahrte sich ihre Liebe zu dem Leben und den Menschen.

Picis Erzählung beginnt mit ihrem Familienleben und ihrer Schulzeit in Carei. Der Schrecken beginnt für sie 1938 – 1939 mit der eisernen Garde und dem ausufernden Antisemitismus. Pici, die bis zum 2. Mai 1944 in einer Näherei gearbeitet hat, wird am 3.Mai 1944 mit ihrer Familie ins Ghetto geschickt und verlor ihr Zuhause. Die Deutschen waren bereits im März gekommen und forderten nun sämtliche Juden auf, alles abzugeben und ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen. Die erste Station der leidvollen Monate ist das Ghetto Carei, das sie aber bereits nach zwei Wochen verlassen und in das Ghetto Satu Mare gebracht werden. Im Juni kommen sie in die unmenschlichen Züge, die nach Auschwitz fahren. Pici als junge Frau überlebt die Selektion an der Rampe. Viele, besonders alte, behinderte, schwangere Menschen wurden gleich weiter in das Todeslager Auschwitz-Birkenau geschickt. Durch die Folter, Schikanen und Demütigungen verliert Pici ihren Lebensmut. Sie wird krank; nicht nur physisch, sondern auch seelisch und geistig. Sie war kurz davor, sich selbst das Leben zu nehmen. Im Juli 1944 wird sie ebenfalls nach Birkenau gebracht. Das drückende, hoffnungslose, fast schon abgestumpfte Dasein wird in Picis Bericht immer spürbarer. Durch eine erneute Selektion im August kommt Pici mit weiteren Frauen nach Nezweil (Walldorf) und wird zur Zwangsarbeit herangezogen. Die Letzte Etappe war Ravensbrück. Jedes Lager offenbart seinen eigenen unmenschlichen Schrecken. Pici überlebt als einzige ihrer Familie. Viele Lager werden gegen Kriegsende mit den Menschen, die nicht mehr laufen konnten, gesprengt.  Auf dem letzten Marsch kann Pici entkommen und erfährt später, dass der Krieg zu Ende ist.

Pici erlebte über ein Jahr extreme Zustände: Gewalt, Angst, Mangel und Trauer.

Roberts Großvater Iszidor, Pici und mein Vater Ivan

Nach der Befreiung lernt sie Izdor Scheer kennen und bekommt 1946 ihren Sohn Iván. 2015 stirbt Pici mit 91 Jahren. Auch wenn Pici „die Kleine“ heißt, war sie eine große Frau und hat sich trotz ihrer traumatischen Erlebnisse die Menschlichkeit, den Humor und die Liebe zurückerobert. (Foto: Roberts Großvater Iszidor, Pici und sein Vater Ivan)

Fotos mit freundlicher Genehmigung von Robert Scheer

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